Wenn man Herbert Gieß in Oberdorf seine Schafe und Enten füttern sieht, denkt man nicht, einen Menschen mit großer Leidenschaft für die Vorzeit am Bodensee vor sich zu haben. Doch staunt man vielleicht über das kleine Pfahlhaus am Bach und erfährt, dass er dieses selbst mit Materialien wie zur Steinzeit errichtet hat. Und wirklich: Herbert Gieß sucht seit mittlerweile 6 Jahrzehnten am Ufer des Überlinger Sees nach Zeugnissen der Pfahlbauzeit und besitzt inzwischen eine Sammlung von über 5000 Objekten. Diese verwahrt er sorgfältig in eigens angefertigten Schränken und Vitrinen, alle sind beschriftet und katalogisiert, viele auch schon fachgerecht gezeichnet und damit für die Forschung verfügbar. Durch seinen Wunsch, auch andere Menschen an seinen Funden teilhaben zu lassen, entstand in Dingelsdorf die Pfahlbau – Ausstellung, die ausschließlich mit seinen Funden bestückt ist
Diese Leidenschaft für vorgeschichtliche Altertümer wurde bei ihm schon im Alter von sechs Jahren geweckt, als er am Wallhauser Ufer den „Strandsucher“ Hermann Schiele beobachtete und von ihm erfuhr, dass da am Seegrund die Überreste einer jahrtausendealten Kultur liegen. Der 1953 geborene Herbert wuchs im Gasthof Bodensee in Wallhausen auf, nur wenige Meter vom Ufer entfernt. Damals war noch kein Hafen ausgebaggert, der Uferbereich mit den vielen Lebenszeugnissen der Steinzeit war noch unzerstört – und zog den kleinen Herbert unwiderstehlich an, vor allem nachdem er schon bei seinem ersten Versuch eine schöne Pfeilspitze aus Feuerstein fand. Angeleitet von Hermann Schiele lernte er, Objekte im Uferschlamm als vom Menschen bearbeitete Artefakte zu erkennen und zu bestimmen. Er verschlang das von der Mutter geschenkte Buch „Vorzeit in Deutschland“, erweiterte später sein Wissen durch Fachliteratur und intensives Studium der Exponate in den umliegenden Museen, und erwarb so mit der Zeit eine beachtliche Kennerschaft. Durch die Bekanntschaft mit Helmut Schlichtherle, damals noch Archäologiestudent, später und bis 2016 Leiter der Abteilung Feuchtboden- und Unterwasserarchäologie des Landesamtes für Denkmalpflege in Hemmenhofen, konnte er seine Funde auch durch Wissenschaftler untersuchen und begutachten lassen.
Herbert Gieß ist immer mit langen Stiefeln unterwegs, wenn er nach Spuren der Pfahlbauern sucht.
Die für Gieß wichtigsten Fundorte lagen am Überlinger See: Dingelsdorf – Klausenhorn, Wallhausen, Bodman, Ludwigshafen und Sipplingen. Ein großer Teil seiner Sammlung stammt aus den Jahren 1967-2000, als am Bodensee durch Schilfsterben und Ufererosion tiefere Fundschichten freigespülte wurden. „Heute gibt es kaum noch Funde“, sagt Herbert Gieß. Voraussetzung war stets winterliches Niedrigwasser und ein kräftiger Ostwind, durch dessen Wellenschlag die oberen Sandschichten weggeschoben wurden und die Kulturschichten, zwar noch unter Wasser, aber doch frei zugänglich wurden. So fand er einmal „nach einem dreiwöchigen Ostwind am Wallhauser Ufer über hundert Objekte. Heute ist durch den Hafenbau dort fast alles zerstört“. In Sipplingen, an der Baggerkante des Osthafens, fand er Gefäße aus der sogenannten Pfyner und Horgener Kultur der Jüngeren Steinzeit 3870-2820 v.Chr, darunter einen zweihenkeligen Krug mit stilisierten weiblichen Brüsten.
Über die Jahre fand Gieß viele Typen von Gerätschaften der Pfahlbauzeit: Steinbeile und durchbohrte Äxte, Pfeilspitzen, Bohrer und Messerklingen aus Feuerstein, Gefäße verschiedener Form und Funktion, Knochenpfrieme, Getreidemühlen, Webgewichte und Spinnwirteln, und sogar Stücke aus organischem Material, wie Holzschäfte von Beilen oder ein Stück Kleiderstoff. Eines der Highlights ist ein Feuersteindolch, ähnlich dem, den „Ötzi“ an seinem Gürtel trug, gefertigt aus dem gleichen oberitalienischen Steinmaterial. Ein anderes eine große Lanzenspitze der Bronzezeit, die er zufällig durch ein „Bing!“ seiner metallenen Hacke unter Algen entdeckte.
Funde vom Klausenhorn und aus Wallhausen: Pfeilspitzen, durchbohrte Axt, Steinbeile, Getreide – Mahlplatte, Netzsenker, durchbohrter Schmuck und Feuersteinklingen – durchbohrte Axt, Steinbeile, Getreide – Mahlplatte, Netzsenker, durchbohrter Schmuck und Feuersteinklingen – Album H. Gieß
Aber durfte der Privatmann Gieß überhaupt nach diesen Pfahlbau – Resten suchen und sie behalten? „Schwarz“ zu graben ist schließlich verboten. Das Landesamt für Denkmalpflege hatte jedoch oft nicht die Kapazität, überall die freiliegenden Zivilisationsreste zu bergen. In dem Wissen, dass diese nach relativ kurzer Zeit durch Wellenschlag und Luftzufuhr zerstört worden wären, waren die Wissenschaftler einverstanden, dass Gieß Funde an der Oberfläche des Seegrunde barg, vorausgesetzt diese wurden vorgezeigt, verzeichnet und konnten bei Bedarf wissenschaftlich bearbeitet werden. Herbert Gieß wurde zum Ehrenamtlichen Mitarbeiter des Landesdenkmalamtes ernannt. Er ist stolz darauf, dass sich mache seiner Funde als einzigartig herausstellten und etliche in wissenschaftlichen Abhandlungen publiziert wurden. Auch wurde eine Magisterarbeit über die Pfahlbaustation Dingelsdorf – Klausenhorn geschrieben, die nicht zuletzt auf Fundmaterial von Herbert Gieß basiert.
Das Klausenhorn im Winter. Vor rund 5000 Jahren lebten hier Menschen der Jüngeren Steinzeit in Pfahlbau-Häusern – Foto Gisela Pook